Der eisige Wind brennt ihm in seinen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen, während er auf das aufgewühlte dunkle Wasser der Elbe blickt. Eine einzelne Träne sucht sich ihren Weg über seine bleiche Wange.
Mühsam zieht Matti eine vor Kälte unbewegliche Hand aus der Tasche seiner alten Lieblings-Levi ‘s, wischt die Träne fort, streicht dabei über seinen Drei-Tage-Bart, und muß lächeln.
Trotz allem muß er lächeln, denn Max erschien vor seinem geistigen Auge. Max, der vor nicht mal 24 Stunden dieselbe Bewegung gemacht hatte. Er hatte ihm über die Wange gestrichen, gelächelt und gesagt: “Ich liebe deinen Bart!”.
Matti schaut zum anderen Ufer, und sieht verschwommen kleine rote Wagen über die Kaianlagen flitzen, selbst auf die Entfernung schmerzt ihr drohendes gelbes Blinklicht seinen Augen.
“Er hatte gesagt, er liebt meinen Bart, aber liebt er auch mich?”, fragt er laut den Wind. Und wie um zu antworten, schlagen zwei extra starke Wellen gegen die Steine zu seinen Füßen, und ein altes verwittertes Stück Holz landet mit einem Glucksen an Land. Schwarz und glitschig sieht es aus.
Das war die Frage, die Matti an diesem kalten nieseligen September Tag raus getrieben hatte, raus aus seiner gemütlichen Ein-Zimmer-Wohnung, und hin zur windgepeitschten Elbe. Vielleicht würde ihm der Wind, das Wasser, oder der Regen eine Antwort geben, denn er konnte in dem verwirrten Chaos seiner Gefühle keine mehr finden, wußte aber, wenn man lange genug wartet und beobachtet, daß immer eine Antwort kam. Woher auch immer.
So stieg Matti auf sein blaues GT Karakoram Bike, und machte sich auf den Weg durch die sich verdunkelnde Hansestadt. Schon die Frische des Fahrtwinds ließ ihn sich besser fühlen. Er begann seinen Körper wieder zu fühlen, nachdem er sich den ganzen Tag seltsam taub und matt gefühlt hatte. Seine Lungen füllten sich, und das Herz legte einen Schlag zu. Biken war Mattis Ein und Alles. Nach vier Jahren als Messenger waren er und sein GT zu einer Einheit verschmolzen, und er hatte einen rundum Radar entwickelt, der alle Bewertungen im Gesichtsfeld automatisch erfasste. So konnte er das Denken ausstellen, und sich ganz der Bewegung hingeben.
Dieses Mal gelang es ihm jedoch nicht den Kopf frei zu bekommen, die Eindrücke der letzten Wochen waren einfach zu stark gewesen, und immer wieder tauchte Max in seinen Gedanken auf. So merkte er gar nicht, daß seine Fahrt immer schneller wurde, bis ein Taxifahrer versuchte ihn von der Straße zu drängen, und er augenblicklich hellwach war.
Die Wanderwege an der Elbe, und auch der Strand, waren bei diesem unwirtlichen Wetter fast menschenleer. Gemächlich fuhr Matti den Weg entlang, auf der Suche nach einem einladenden Platz. Ein alter, zur Seite geneigter Baum, der vage an die Form eines Fragezeichens erinnerte, schien genau richtig. Denn Fragezeichen fühlte Matti mehr als genug in sich.
Nachdem er das GT an die herausragenden Wurzeln gelehnt hatte, kletterte er vorsichtig auf den feuchten Baumstamm, und setzte sich.
Abendlicher Schiffsverkehr auf der Elbe; eine dunkle Barkasse tuckerte gemächlich vorbei, und wird von einem hell erleuchteten roten Schlepper überholt. In den Docks, und am gegenüberliegenden Kai, wie immer Hochbetrieb.
Der Wind zerrt an Mattis viel zu dünner Nike-Jacke, weht durch seine kurzen Haare. Nach einem kurzen Blick auf das Panorama, schaut Matti an seinen in der Luft baumelnden Füßen vorbei auf den Bornova travesti Boden. Und endlich kommen die Tränen, die seit Tagen immer wieder runtergeschluckten Tränen. Ein Zittern schüttelt seinen schmächtigen Oberkörper, und Matti krallt beide Hände in die Rinde des Baumes, Halt suchend. Doch es ist wie ein Sturz ins Bodenlose. Als das erste Zusammenkrampfen nachläßt, hebt Matti den Kopf, die Tränen tropfen ihm vom Kinn auf die Oberschenkel, und er wendet sein Gesicht dem Wind zu, und schreit so laut er kann: “Das ist nicht fair! Das ist einfach nicht fair!”.
Doch die Worte ergeben keinen Sinn.
Lange Jahre war Matti das, was man wohl einen Einzelgänger nennt. Die letzte Liebe hatte tiefe Wunden geschlagen, und der Schmerz war ihm noch so frisch in Erinnerung, als wäre es gestern gewesen. Auf eine Art hatte er Angst vor Menschen bekommen, und hielt sich auf Distanz. Nur beim Kurier fahren konnte er zwanglos mit allen umgehen, dann war er in seiner Rolle als Stadtcowboy, einer der letzten freien Menschen.
Kurier fahren; Fitneßstudio; die Kollegen; und lange Gespräche mit Frank, seinem besten Freund, so sah sein Leben aus. Für lange Zeit.
Doch eines Tages mußte Matti in der Stammwerkstatt die Gangschaltung nachstellen lassen. Und dort war Max. Seine Tasche verrät, daß er für die Konkurrenz fährt. Blicke treffen sich, Worte werden gewechselt, ein Treffen verabredet.
Als Max zuerst die Werkstatt verließ, bemerkt Matti, daß er noch einen Augenblick länger auf die Tür schaute, die gerade hinter Max zugeschlagen ist, und das eine seltsame Stille ihn ergriffen hatte.
So hatte alles begonnen mit Max.
Das erste Treffen war im Park, und während sie an ihren Bikes schraubten, und sich halfen verzogene Felgen zu richten, stellten sie fest, wie viele gemeinsame Interessen sie haben.
Das zweite Treffen war bei Max zu Hause, und sie hatten gemeinsam gekocht. Matti war so aufgeregt, wie lange nicht mehr, besonders da er das Rezept ausgesucht hatte. Doch alles gelang, und er genoß das lange Gespräch über Literatur, neben dem Biken seine zweite Leidenschaft. Das Leben bekam unmerklich einen anderen Geschmack.
Dann ging alles ganz schnell. Bücher wurden getauscht, CDs, ständig mußten wichtige Themen besprochen werden, sie trafen sich öfter, sie telefonierten.
Es mußte beim fünften Treffen gewesen sein, als Matti Max küßte. Und Matti war verloren. Hoffnungslos verloren, vom ersten Augenblick an. Als er abends wieder zu Hause war, mußte er weinen. Weinen, weil er das wieder fühlte, was er all die Jahre verleugnet hatte. Er weinte und war glücklich.
Eine unbändige Sehnsucht erfaßte ihn.
“Max, Max, Max!!”, schrie es in seinem Kopf, und sein Körper verlangte nach den Händen, den Lippen, den Armen von Max.
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit schiebt sich ein riesiges graues Containerschiff die Elbe hinab. Ausgestorben wirkt es, wie von Geisterhand bewegt.
Matti schaut es an, doch sieht es nicht. Sein von Tränen feuchtes Gesicht immer noch dem Wind zugewandt, beginnt er zu sprechen. Stockend, vorsichtig kommen seine Worte.
“Max, lieber Max, bitte gib mir ein Zeichen. Oder ihr, ihr Götter, gebt ihr mir ein Zeichen, daß er mich so will, wie ich ihn! Ich will doch nur…, ich will doch…, diese Lippen, diese Augen, oh nein, nein!”.
Matti kann nicht weitersprechen, sein Hals krampft sich zusammen zu einem festen Kloß, und wieder Bornova travestileri laufen ihm die Tränen über das von Schmerz verzerrte Gesicht.
Nach diesem verhängnisvollen ersten Kuss, trafen Max und Matti sich erneut bei Max in der Wohnung. Matti hatte kaum seine Tasche abgestellt, da begann Max bereits seine lange Rede, und Matti saß aufrecht und steif auf einem alten Bürostuhl, hörte zu, und ein Riß tat sich in ihm auf. Er schaute auf Max’ schöne Lippen, lächelte, und die Worte taten ihr Werk.
Max wolle keine Beziehung, und wenn, dann solle Matti ihm Zeit lassen. Aber er wollte frei sein, sich auf seine Arbeit konzentrieren, und sei es auch gar nicht wert. Und Beziehungen zerstören Freundschaften; das war das Argument.
Der Riß, den Matti spürte, war folgender: Auf der einen Seite, daß, was sich als Realität darstellt, und dabei falsch anfühlt, und auf der anderen Seite, daß, was erfühlt wird, was aber nicht zur vermeintlichen Realität paßt.
Matti war froh als sie das Thema wechselten; und bemerkte daß er zitterte.
Später am Abend setzte sich Matti ganz dicht neben Max, und dieser legte einen Arm um seine Schultern, zog ihn an sich, und sagte:
“Endlich! Da habe ich drauf gewartet! “.
Und er küsste Matti.
Ab da wußte Matti nicht mehr, was er fühlen sollte. Es war so schön, so wunderschön in den Armen von Max, daß er alles Gesagte vergaß, und sich den Küssen seines Freundes überließ.
Es wurde spät, und sehr schön an diesem Abend, und Matti war glücklich als er nach Hause ging.
Als er dann am nächsten Morgen aufstand, und sein verschlafenes Gesicht im Badezimmerspiegel sah, konnte er nur lachen und den Kopf schütteln.
“Es scheint fast so, als würdest du diesen Typen lieben, diesen tollen wunderschönen Typen!”, sagte er zu seinem Spiegelbild, und warf lachend den Kopf in den Nacken.
Und dann fiel es ihm wieder ein, das, was Max gesagt hatte, und der Riß tauchte wieder auf. Ernst und prüfend schaute sich Matti in die blauen Augen:
“Ach Quatsch! Er liebt mich auch! Das fühl ich doch, ich bin doch nicht blöd!”, sagte er sich, versuchte ein Lächeln, und drehte dem Spiegel den Rücken zu.
Es war Samstag, Matti brauchte nicht zu arbeiten, und vertrödelte den Tag zu Hause; unfähig etwas zu tun, saß er an seinem Schreibtisch, oder lief durch die kleine Wohnung. Immer wieder tauchte dieses nagende Gefühl auf, die Unsicherheit, der Zweifel, bis er es nicht mehr aushielt, und raus mußte, raus aus der Wohnung, raus aus dem Gedankenkarussell.
Lange Zeit schaute Matti regungslos auf das mittlerweile schwarze, unruhige Wasser des Flusses. Und genauso unruhig wie das Wasser, fließen auch seine Gedanken durcheinander. Wünsche tauchen auf; Bilder von Momenten mit Max; der Geschmack seiner Lippen; Worte und Schmerzen aus der so lange zurückliegenden letzten Beziehung.
“Okay folks, back up a bit! Nichts geschieht hier ohne Grund, es gibt einen Plan, ein Ziel! Wo also liegt die Aufgabe?”
Das laute, dröhnende Hupen eines weiteren ankommenden Containerschiffes reißt Matti kurz aus seinen Gedanken, und er wirft dem Schiff einen fast feindseligen Blick zu.
“Also, wieweit verstehe ich das Alles bis jetzt? Ich sitz hier und heul, weil ich tot war, mein Gott war ich tot, und dann kam Max und gab mir das Leben zurück. Wow! Das ist heftig!”
Fast lautlos schiebt sich das Schiff durch das Wasser, nur ein entferntes Travesti bornova gleichmäßiges Dröhnen ist zu vernehmen.
“Aber es stimmt doch! Er gab mir mein Herz zurück!”
Nacht hat sich über den Fluß und Hafen gelegt. Matti schaut dem sich entfernenden Schiff nach, schaut auf die Wellen und auf die Steine zu seinen Füßen. Mit einem Zögern formt sich der nächste Satz, er traut sich kaum ihn auszusprechen.
“Ich soll sein Herz berühren…”
Und Matti weiß, daß dies die Antwort ist, er fühlt es im ganzen Körper, und seine Muskeln entspannen sich zum ersten Mal an diesem Tag.
“Und wenn er das gar nicht will? Was dann?”
Kurz fühlt er in sich hinein, ob es darauf eine Antwort gibt, aber alles bleibt still.
“Oh Matti, Matti, was du dir immer für Gedanken machst! Es muß immer alles auf der sicheren Seite sein, nicht wahr? Also gut, ich werde ihm sagen, daß ich ihn liebe, egal ob ich dabei gegen Wände laufe oder nicht. Das ist die Aufgabe, und ich werde es tun, ich werde sein Herz berühren!”
Mit einem Mal erscheint alles so einfach, so logisch, daß Matti sich wundert, warum er überhaupt gelitten hatte. Alle Spannung ist aus seinem Körper gewichen, und die Angst aus seinem Herzen. Matti setzt sich aufrecht hin, und atmet tief die frische, eisige Luft ein. Er zieht aus seiner Timbuktasche erst Taschentücher, um sich die verbliebenen Tränen fortzuwischen, und dann sein Mobiltelefon. Die Nummer von Max ist gespeichert, so ist er schnell mit ihm verbunden.
“Ja?”
“Hi! Hier bin ich, machst du gerade was Wichtiges, störe ich dich?”
“Nein, ich lese.”
“Ähm, ich würde dir gerne etwas sagen, ginge es, daß ich kurz vorbeikomme?”
“Ich muß nachher noch weg, und bis dahin wollte ich noch putzen, du weißt ja, wie es hier aussieht, und dann lese ich gerade.”
“Es ist aber wichtig, und dauert auch nicht lange”.
“Ich ruf dich übermorgen an, okay? Dann erzähl ich dir alles Weitere…”
“Ja, hm, gut.”
“Ciao.”
“Ja, Ciao.”
Matti glaubt von einem Vakuum umgeben zu sein, mit einem Mal fällt ihm das Atmen schwer. Verwundert schaut er auf das Display des Telefons; 1:33 zeigt es an. Eine Minute 33 hat das Gespräch zwischen Max und Matti gedauert. Tränen schießen ihm erneut in die Augen, und er muß mehrmals blinzeln, um weiterhin die Anzeige erkennen zu können. Er starrt sie an, bis nach wenigen Sekunden das Licht erlöscht.
Keine Gedanken sind in Mattis Kopf, während er das Telefon zurück in die Tasche steckt. Stille. Einen Moment sitzt Matti in sich zusammengesunken auf dem alten Baumstamm, und schaut ins Leere. Dann fällt sein Blick auf das Stück Holz, das an Land gespült worden war. Die spärliche Hafenbeleuchtung bricht sich glitzernd auf seiner feuchten Oberfläche.
Mit einem Satz springt Matti zu Boden, und geht vorsichtig auf den Steinen balancierend zu dem Platz an dem das Holzstück liegt. Unsicher auf dem wackeligen Untergrund bückt er sich, um es aufzuheben und rutscht ab. Mit einem gurgelnden Geräusch versinkt sein schwarzer Spezialisedschuh im schlammigen Sand der Elbe, und er steht bis zum Knie im eisigen Wasser. Erneut bückt er sich nach dem Holz, nimmt es in die Hand, und meint eine tiefe Ruhe zu spüren die von ihm ausgeht. Feucht wie es ist, gleitet es ihm jedoch aus der Hand, und fällt zurück in das Wasser, aus dem es aufgetaucht war. Nur ein paar Luftblasen bleiben an der Stelle zurück, an der es versinkt. Für einen Moment gebannt, schaut Matti auf diese Stelle, und die Luftblasen scheinen ihm wie eine Einladung.
Als die schweren Wasser der Elbe sich über Matti schließen; sein Körper tiefer sinkt, um von einer Strömung erfasst zu werden, sagt er mit dem letzten ihm verbliebenen Atem:
“Max.”